notturno - christoph tannert /besprechung
ulrich polster - notturno /von christoph tannert
Ulrich Polster, aufgewachsen in der Zeit des Kalten Krieges in der DDR, spürt in
seiner Ein-Kanal-Projektion”Notturno” seinen eigenen ästhetischen Prägungen
nach. Weil der Künstler seine Video-Werke von ihrer malerischen Seite her denkt
und besonderen Wert legt auf das Zur-Geltung-Kommen ihrer bildlichen Präsenz hat
er sich für die Verwendung einer Plexiglasscheibe als Projektionsfläche
entschieden.
Es ist, allen eingestreuten Ironie-Signalen zum Trotz, dem Künstler tatsächlich
heiliger Ernst um den Kern der sozialistischen Moderne.
In einem offenen Miteinander vieler verschiedener visueller und akustischer
Quellen und Ausdrucksformen wuchert die Komplexstruktur dieser beeindruckenden
Video-Arbeit.
Aus dem Augenblickserleben ausgefilterte Bilder, die Polster miteinander
verkettet, werden rückgebunden auf historische Orte und Ereignisse, die sowohl
für die kommunistische Utopie als auch ihre stalinistischen Lügengebäude und
Pathosformeln von eminenter Bedeutung sind.
Was nach experimenteller Verkomplizierung klingt, gelingt Polster mit Bravour.
Die mäandernde Abschweifung ist Gestaltungsprinzip dieses Werkes.
“Notturno” ist voller lebendiger Erinnerungssplitter. Mit eingestreuten Zitaten
distanziert oder bestätigt Polster eigenes Erleben und die seinen künstlerischen
wie menschlichen Daseinszustand konstituierenden Erfahrungen
“Notturno” wird auf diese Weise auch zum Dokument einer Verwandlung des
Künstlers, eine bildgebundene Erkundung der Einstellungsdisposition, die Polster
an sich selbst und seinen ostdeutschen Zeitgenossen wahrnimmt.
Vom Grau der ostdeutschen Städte der Nachkriegszeit über die grobkörnigen und
flackernden Super-8-Film-Experimente der künstlerischen Subkultur der DDR, von
Bezügen zu Eisenstein”Panzerkreuzer Potemkin” bis zu Godards “Film socialisme”
erstreckt sich Ulrich Polsters Bildreservoir, angereichert durch jene
Innenbilder, die er auf ausgedehnten Reisen zwischen Tschernowitz und der Krim
aufsammelte.
Mit sinnenfreudiger Sensibilität hat sich Ulrich Polster auf den Weg gemacht,
die Fragen nach seinem künstlerisches Gewordensein zu erwandern. Die Tonspur
reicht dabei von einer Live Aufführung von Vic Chesnutt bis zu Polens
Avantgarde-Komponist Henryk Górecki und dem deutschen Melancholiker Max Richter.
Christoph Tannert