stalker material - hajo schiff - hinter die bilder gehen /besprechung

hinter die bilder gehen /von hajo schiff

REISE
Alles beginnt mit einem Bild - und es wird auch bei diesem Bild enden. Was sich dazwischen zu einer 39-minütigen, 7-kanaligen Videoprojektion weitet, ist ein daraus abgeleiteter Strom der Assoziationen, Interpretationen und Wirkungen. Eine hochgradig subjektive Bilderwelt entführt, nicht unähnlich dem filmischen Vorbild, Tarkowskijs Stalker, nach einer Bahnfahrt in eine nie genau zu erfassende ZONE hinter dem Bild und zwischen den Bildern. Und dort ist alles nicht nur das, als was es erscheint. Seltsame Erklärungen, schnelle Kamerafahrten und viele ruhige, oft idyllische Momente entführen in eine Welt, in der die resignative Müdigkeit des schnellen Bescheidwissens, des Immer-schon-alles-gesehen-habens nichts mehr gilt. Denn die Wahrnehmung wird fragwürdig. Was ist das, was da zu sehen ist?

In der total informierten, deshalb aber nicht besser orientierten Gesellschaft sind alle, selbst die neuesten Bilder immer auch Erinnerungen. Alles Gesehene ist bereits typisiert, ist wiedererkanntes Zeichen für eine schon bestimmte Geschichte, manchmal gar das Logo seiner selbst. Milliarden von vorhandenen und täglich neu geschossenen Photos, die omnipräsente Werbung, die Bildtradition der Malerei, vor allem aber die Bildermacht des Kinos bestimmen jede, auch scheinbar noch so neue Wahrnehmung in andauernder, mal mehr, mal weniger starker, allerdings stets unscharf oszillierender Präsenz. Ob ein Künstler sich dessen bewusst ist oder nicht, seit langem ist nichts neu Produziertes mehr ab ovo. Alles muss sich für Produzenten und Rezipienten in immer komplexer werdenden, nur schwer zu steuernden Referenzsystemen behaupten.
Bei der neuesten Arbeit von Ulrich Polster ist der Bezug zu einem Film von Andrej Tarkowskij mit dem Titel gesetzt: Stalker/Material. Das verführt, erst einmal seitenlang über die großartige Arbeit des russischen Regisseurs zu schreiben - fast alle, die dessen Filme gesehen haben, wurden davon nachhaltig beeindruckt - aber das wäre ebenso naheliegend, wie falsch. Referenz-Systeme sind keine Referenzen. Hier schätzt jemand den russischen Meister-Regisseur, verneigt sich vor dessen beeindruckender Arbeit - und geht mit einigen Zitaten dann seines Weges. Schon 1985 hat Ulrich Polster, nachdem er den Film Stalker gesehen hatte, selbst in verfallenen Gebäuden auf verlassenen Grundstücken nahe seinem sächsischen Heimatort Hainichen auf Super-8 ruinenromantische Filmversuche gemacht. Jahrzehnte später entdeckt er bei Tallinn die Original-Drehorte von Stalker und trifft den damaligen Kamera-Assistenten des Films, den Regisseur Arvo Iho. Dessen nostalgische Führung über das Gelände samt seinen aktuellen Veränderungen hat Ulrich Polster separat dokumentiert. Für Stalker/Material wird sie dann der Anlass zu einer eigenen Reise in die nicht nur mit kinohistorischen Mythen besetzte Realität der Tarkowskischen ZONE.
Ulrich Polster belässt es nicht bei einer Hommage an Tarkowskijs Film-Arbeit. Das dokumentarische Material und die kurzen Zitate werden zum Anlass einer Erforschung möglicher Wirkungen. Auf seiner eigenen subjektiven Reise, verlässt er den einstigen Drehort des russischen Meisters und gelangt in die jedem Menschen eigene Zone der halbwachen Träumereien von Glück und Idylle, von Abenteuer und Gefahr. Es geht wieder um den eigentlichen, den alten Sinn von Reise: Reise als ein Aufbruch in das Ungewisse, als notwendige Bewegung auf dem gewundenen Weg zwischen Geburt und Tod…

RUINE
Dem konkreten Zweck enthoben, verführt die Ruine zum Spielen. Für den Videokünstler kann sie gar ein materialhaftes Pendant sein zur Mehr-Kanal-Projektion. Denn beiden sind stets verschiedene Blicke, verschiedene Geschichtskonstruktionen eingeschrieben. Das beginnt schon mit der Umgebung, mit der durch die Ruine geprägten Landschaft. Spätestens seit Petrarcas essayistischem Brief über seine Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ist gesetzt, dass Landschaft zwischen Gotteswerk, bedrohlicher Natur und Garten Eden immer eine Denkkonstruktion über die Verortung des Menschen im Außen ist. Für das Menschenwerk selbst ist aber die Ruine die beste Metapher.
Einst für irgendeine eindeutige Funktion gebaut, reizt sie nun zu Vermutungen über die alten Zwecke der sichtbaren Formen und führt zu Spekulationen über alternative Vollendungen. Ihr Zwischenzustand zwischen organisiertem Aufbau und unvermeidlichem Verfall, zwischen romantischer Ästhetisierung und der Planung neuer, schönerer Zukünfte, erzählt vom mühevoll in Stein gefassten Streben nach dauerhaften Lösungen und dessen Scheitern. Die grundsätzliche Ruinenhaftigkeit des Menschenwerks kann nur hinter der Brille der Ideologie geleugnet werden. Nimmt man sie ab, werden die Augen geöffnet für die pluralen Visionen des individuell und kollektiv Neuen. Die Mauern, die im Wunsch nach Sicherheit in Eindeutigkeit und Perfektion errichtet wurden, werden ruinös. Blindgewordene, zerbrochene Fenster lassen den Wind der Veränderung herein. Das in der Vergangenheit Gefestigte erlaubt nun das stete Strömen neuer Prozeduren und Prozesse.
Das Wort “strömen” verweist auf eine andere große Lebens-Metapher, die die Arbeit von Ulrich Polster ebenso in vielen Varianten bestimmt: Das Wasser. Der Bachgrund als Ursprungsidyll der Kindheit. Das verzweigende Fließen, durch widerständige Staumauern gebremst, als Bild der Biographie. Die Wasserfälle als scheinfeste Form, die aus steter, überschäumender Bewegung gebildet werden. Der Regen, der einen photographisch ruhigen Ausblick mit intensivem Zeitgefühl füllt…

ROMANTIK
Die ZONE ist als magischer Ort zu denken, das Kino selbst ist gewiss ein solcher. Was aber macht eine Baumgruppe schön, einem Baum betrachtungswürdig, ein Astloch geheimnisvoll, einen ganzen Ort magisch? Das zauberische Versprechen bei Stalker war der Raum, der Wünsche erfüllt. Das kann aber weder im Film, noch in einer Video-Installation klappen. Doch ein wenig wird die Wirklichkeit durchaus verändert - zumindest in der Wahrnehmung. Es scheint, durch einen Reigen von Bildern in einem dunklen Raum werden weniger andere Orte gezeigt, als die Zeit manipuliert. Wenn gefühlte kleine Ewigkeiten lang der Blick auf einen Korb mit monatelang gekeimten Kartoffeln gelenkt wird und wechselnde Schatten eine Zeitrafferaufnahme nahelegen, meint man gar, die Schösslinge wachsen zu sehen. Aber nein, es ist nur die Erwartung, die eine solche Entwicklung fordert, um der genauen Beobachtung der Sache überhaupt Bildwürdigkeit zu attestieren. Denn längeres ruhiges zweckfreies Hinsehen ist längst unüblich geworden.
Wird einem Ding, einem Ensemble, einem Moment eine über sein eigenes So-Sein hinausweisende Bedeutung gegeben, öffnet sich der Weg zur Magie. Die Fähigkeit, sich verzaubern zu lassen, wird dabei als Qualität auf den auslösenden Anlass projiziert. Mit einer derartig über alle Zwecke hinaus belebten Welt wird sowohl umgangssprachlich wie kulturhistorisch das Feld der Romantik betreten. Romantik ist mehr als ein Attribut von Hochzeitsmessen oder Hotelketten. Es ist ein komplexes – und sehr deutsches – ästhetisches Konzept: Schönheitssuchend und selbstreflexiv, das melancholisch Nachtseitige nicht aussparend. Mag sich in der Natur und dem Licht auch das Göttliche zeigen, es ist nicht zu haben ohne seinen Gegenpart, das nachtseitig Drohende. Nebelschwaden. Der Regen im Innenraum. Die tote Brücke. Zwei, drei Kinder, die als Rückenfiguren in die Landschaft blicken. Die Offenbarungs-Metapher des Gegenlichts. Die düstere Festung über allem. Grabsteine.
Einige dieser Motive könnten auch Elemente des Bildaufbaus bei dem romantischen Maler Caspar David Friedrich sein. Dessen realistisch wirkende Gemälde sind als Gefühlslandschaften zu verstehen, ihre bis ins Detail präzise gemalten Szenen sind nicht reales Abbild, sondern “mehrkanalig” aus verschiedenen Elementen kompilierte Stimmungsbilder: Ideale Erhabenheit als simple Studiokonstruktion. Das Göttliche offenbart sich dem Romantiker nicht nur in der Natur, in der Landschaft selbst, sondern vor allem im gesteigerten Potential deren darstellender Wiedergabe durch den Künstler. Das in der Romantik so prägende Sehnsuchts-Motiv nährt sich aus dem prinzipiellen Verlust einer Einheit des Menschen mit sich selbst und der Welt. Man weiß um die Unmöglichkeit, diese Einheit wiederzugewinnen und in einer einzigen, alles umarmenden Idee geborgen zu bleiben. Aber die Bilder dieser Möglichkeit versprechen wenigstens Hoffnung. So erzeugt gerade die politische und psychologische Zerrissenheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland kompensatorisch die schönen, naturreligiös aufgeladenen, “romantischen” Gegenbilder. Was mag es da bedeuten, wenn Ulrich Polster von sich sagt, er habe durchaus eine romantische Ader?

RICHTUNG
Der Stalker hat ein seltsames Werkzeug, die Wegrichtung zu bestimmen: Er wirft eine mit einem Band von weißer Gaze markierte Schrauben-Mutter und folgt deren Fall. Der Autor hat sich das nachgebaut – aber ohne Glauben funktioniert das nicht. Nun ist es für einen erfolgreichen Lebensweg vielleicht egal, was man tut und wem man folgt, solange man dabei konsequent weitermacht und eben einigermaßen fest daran glaubt. Bei Ulrich Polster sind die, die nicht verharren, die Kinder und die Bräute. Sie erforschen die Welt und suchen sich in ihr ihre Positionen. Das Experimentieren mit dem geeigneten Platz und der familiengerechten Aufstellung für das “richtige” Gruppenphoto der Hochzeit ist somit von höherer Symbolik, ebenso wie das “Herumturnen” am Wasserfall. Auch die seltsam verspannt wirkende Entspannung der Picknickgruppen sind nur ein Moment des Innehaltens auf dem langen Weg – auf dem Ulrich Polster uns sogar einen direkt religiösen Moment nicht vorenthält: In einer Triptychon-artigen Zuspitzung erscheint kurz das Kirchenbild der Verkündigung an Maria. Mystische Hochzeit zwischen Zeit und Unzeit. Doch auch solcherart trügerische Versprechen werden später in Feuer und Wasser wieder verschwinden. Denn – um mit David Lynch einen weiteren obsessiven Filmemacher auf der anderen Seite des Atlantiks mit einem in “Twin Peaks” immer wieder gemurmelten Satz zu zitieren – “Die Eulen sind nicht was sie scheinen”. Nicht nur die Eulen nicht.
Jeder Ort kann immer auch ein Tatort sein. Das hat Michelangelo Antonionis “Blow Up” am Beispiel der Photographie exemplarisch vorgeführt. Und wenn sich bei Ulrich Polster der Nebel über dem Bachlauf dahinzieht, so bestimmt die voreingestellte – und durch den Sound verstärkte – Stimmung des Betrachters, ob er an sanften Morgendunst oder eine zerstörerische Giftwolke denkt. So paradox es klingt: Ohne Ambivalenz wären die aus dem Künstlerleben gewonnenen Bilder unverständlich. Denn nicht dessen Erleben gilt es nachzuvollziehen, sondern aus dem Material die eigene Geschichte zu bauen. Je individueller ein Künstler seine Welt konstruiert, so stärker sind die Betrachter gefordert, dem ihre eigene Welt-Wahrnehmung entgegenzusetzen. Dass die Richtung dieser Aneignung nicht leicht zu bestimmen ist, liegt im Konzept einer aus sieben Kanälen kommenden Bild-Argumentation. In dieser Offenheit macht Ulrich Polster mit aller gebotenen Subjektivität eines der Romantik nicht abgeneigten Künstlers aus dem biographisch geprägten Material über die Hommage an einen großen Filmemacher hinaus eine Feier des Transitorischen an sich.

Hajo Schiff © 2015