stalker material - matthias lindner - gefangen in der zeit /besprechung
gefangen in der zeit /von matthias lindner
“The machine-gun-man on the motorcycle.” Die Projektion eröffnet mit Worten des Zeitzeugen Arvo Iho, den einzigen verständlichen Sprachelementen der Videoinstallation. Der damalige Praktikant am Set bezeugt damit den Ausgangspunkt des Polsterschen Videos - die ehemaligen Drehorte von Tarkowskijs Stalker. Im Laufe der 40 Minuten wird Polster weitere typische Tarkowskij-Szenen und -Atmosphären modifizieren: die Bahnfahrt und den Wasserfall, die großen Nebelflächen, Feuer, Ruinenlandschaften. Ästhetischer Ausgangspunkt für Tarkowskij war immer die Idee für einen Film, die Erzählung einer Figur in ihrem unlösbaren Gefangensein in der Zeit. Er suchte dafür filmische Bilder, die einer poetischen Logik folgen, weil sie auf Beobachtung basieren. “Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die klassische Dramaturgie.” (Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, 1984, dt.: Frankfurt 1986, S.22)
Polster dreht keine Spielfilme, aber macht sich in verwandter Weise das Element der Beobachtung zum grundlegenden Prinzip seiner Werke. “Das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.” (Tarkowskij, a.a.O., S.70) Polster dehnt diesen Beobachtungsprozess geduldig und vertraut dem Zufall mit einer enormen Ausdauer bei der Produktion des Bildmaterials. Er organisiert sich gut gewählte und sorgsam komponierte Szenen wie in einem Gemälde, wartet wie die Spinne im Netz und schneidet später am Rechner die Filetstücke des Geschehens heraus. Die Kamera filmt im Stalker/Material eher dokumentarisch ohne spektakuläre Perspektiven und Schwenks. Es gibt ja keine Psychologie von Figuren zu zeigen. Der Ort erst gebiert mit seiner Erscheinung und dem unvorhersehbaren Geschehen an ihm das Beeindruckende.
Polsters Film entsteht wesentlich im Schnitt, seine Charakteristik formt sich
aus und wächst mit dem verfügbaren Material. So wird der Umgang mit der Zeit der
dynamischste Ausdrucksträger Polsterscher Videos und die stärkste Achse zu den
Alltagserfahrungen des Zuschauers. Bewegung lässt die erlebte Zeit schneller
vergehen, beinahe unveränderliche Szenen führen zum Verlust des Zeitempfindens.
Selten herrscht Realzeitgefühl. Die Mehrfachprojektion in der Ausstellung sorgt
für weitere Verwirrung der Gefühle.
Polster spielt mit der Erlebnisfähigkeit des Zuschauers, macht aus
quasidokumentarischem Material eine Folge intensiv erlebter kontrastreicher
Situationen hoher Verdichtung. Er wirft ihn in die Gegensätzlichkeit der
Empfindungen zwischen Slow Motion und Multikanalaufmerksamkeit, in eine
Hinwendung zu sonst eher nicht so aufmerksamkeitsheischenden, weil vertrauten
Kulissen und Einzelheiten. Alltägliche Bildsituationen bekommen durch Dehnung
die Chance, sich als Metaphern zu entpuppen und ins Gedächtnis zu graben. Der
Ton unterstützt diese kontemplative Wahrnehmung mit einer sehr statischen,
naturfernen Klang-Geräusch-Struktur, die nur selten unterbrochen oder
rhythmisiert wird.
Stalker/Material ist zugleich eine Inszenierung im Raum. Fünf großen Projektionen mit Ausblickcharakter auf drei Seiten steht eine kleine, wie selbst leuchtende, weil von beiden Seiten belichtete transparente Scheibe mitten im Raum gegenüber. Der Betrachter muss erst seinen Platz in der großzügigen räumlichen Anordnung finden. Er verlangt nach einem idealen Platz mit totaler Übersicht. Aber es gibt ihn nicht bei sieben Projektionen auf vier Seiten. Man muss akzeptieren, nicht alles sehen zu können. Die Aufmerksamkeit nach dem Geschehen zu orientieren, führt zu weiträumigen Bewegungen in der Installation, die schnell als unangemessen empfunden und auf ein Minimum reduziert werden. Das rührt auch daher, dass Polsters Kameraführung keine Zuschauerperspektive kennt. Man bleibt in distanzierter Betrachtung, was Erlebnis und Reflexion gleichermaßen ermöglicht.
Mathias Lindner, Mai 2015