stalker material - arvo iho - gemalt mit licht /text
gemalt mit licht /von arvo iho
“Der Mensch weiß nichts über seine unterbewussten Wünsche.”
Dort wo man jetzt am ‘Kessel’ baut, war das Tor zur Zone im Film ‘Stalker’ von Andrej Tarkowskij.
Im Industriegebiet zwischen den Alt-Narvaer und den Leningrader Chausseen wurden alle Draisinenfahrten aufgenommen. Bei der Brücke über den Fluss Pirita hielt die Draisine, dort sind sie ausgestiegen und haben sich in nördlicher Richtung auf den Weg gemacht. Die Zone selbst fing im Pirita-Flussbett an. Da standen vier Panzer, die wie zerstört aussahen, einige Maschinengewehre und ein paar Panzerfahrzeuge. Oben war an einem Maschinengewehr ein Soldatenskelett aufgestellt. Das war die Welt des Stalker, in die sich die Soldaten nicht weiter hinein trauten.
Gedreht wurde damals auch 200 Meter entfernt vom Viru-Hotel, dem Ort des jetzigen Gebäudes der Nordea Bank, in den Höfen des staatlichen Getreidespeichers im Quartier Rotermanni, am alten Ölspeicher auf der Halbinsel Kopli sowie in zwei Kraftwerken am Fluß Jägala. Einzig der Innenraum wurde im größten Studio von Mosfilm aufgenommen. Die Schlusseinstellungen wurden in einem östlichen Vorort Moskaus gedreht.
Zunächst war für ‘Stalker’ Usbekistan als Drehort vorgesehen gewesen, wo sich aber im Frühjahr 1977 ein Erdbeben ereignete.
1975, als Tarkowskij in Estland seinen ‘Spiegel’ zeigte, hatte er sich mit dem Direktor des Tallinn Film Studios, Enn Rekkor, angefreundet. 1976 bat Rekkor Tarkowskij als künstlerischer Berater bei dem Episodenfilm ‘Karikakramäng’ (‘Das Gänseblümchenspiel’) mitzuwirken, an dem [die Regisseure] Peeter Simm, Peeter Urbla und ich [als Kameramann] beteiligt waren. Während dieser Arbeit sprach er an, dass die Angelegenheit in Usbekistan gescheitert sei und er sich lieber hier umschauen wollte.
Das Drehbuch wurde noch am Set geändert
Als Tarkowskij mit dem Drehen begann, wurde mir erlaubt als Praktikant dabei zu sein. Ich hatte keine Arbeitsaufgaben während des Drehs, weil ich mit der Schule [Studium als Kameramann am Moskauer Filminstitut] offiziell schon fertig war. Aber das Recht mich am Set aufzuhalten, habe ich während der beiden Sommer maximal genutzt. Ich durfte neben dem Regisseur stehen und eigene Bilder machen - was sonst absolut verboten war - und verfolgen, wie etwas gemacht wurde, wie inszeniert, beleuchtet und entwickelt wurde.
Drei Kameramänner wechselten sich während der Drehzeit am Set ab. Im ersten Sommer war Georgi Rerberg da, im September und Oktober Leonid Kalaschnikow, im nächsten Sommer Alexander Knjazhinskij. Zu Zeiten des ‘Spiegel’ pflegte Tarkowskij mit Georgi Rerberg eine exzellente Zusammenarbeit, aber beim ‘Stalker’ klappte es nicht so gut. Leonid Kalaschnikow hatte viel mit Solowjow gearbeitet und romantische Filme mit einer sehr schönen Bilderwelt gemacht. Beim ‘Stalker’ konnte er nur drei Wochen dabei sein, dann wurde das Projekt gestoppt, weil das Drehbuch ständig geändert wurde. Sie wären im Herbst nicht mehr fertig geworden, die Natur nahm schon Gelbtöne an. Im Winter erlitt Andrej einen Herzinfarkt, war fast einen Monat lang im Krankenhaus, und im nächsten Sommer, ab Ende Mai und im Juni, wurde der ganze Film auf einmal gedreht. War im ersten Sommer die bereits siebte Drehbuchfassung in Arbeit, so wurde am Ende die Geschichte schließlich nach der elften Fassung gedreht. Es war nicht üblich so viele Varianten zu erstellen. Und ebenfalls höchst ungewöhnlich war die Tatsache, dass das Drehbuch noch während des Drehens geändert wurde.
Man brauchte nur zwei Takes
Knjazhinskij hat das gesamte Material zu 100% neu aufgenommen, da das alte Material durch Verschulden des Mosfilm-Labors zu Schrott gemacht worden war. Mehr als 2000 Meter Negativfilm von Kodak wurden zu einem ekligen Braungrün entwickelt, das konnten ich und Peter Simm am Schneidetisch auch selbst sehen. Dies war ein neuer Typ Kodakfilm und der Chefingenieur von Mosfillm, Konopljow, hatte ‘rationalisiert’, eine Chemikalie nicht eingekauft, er sparte Geld. Aber - von der anderen Seite betrachtet - wäre es nicht so gekommen, hätten wir nicht den ‘Stalker’, den wir jetzt haben. Den ersten Drehbüchern nach wäre ‘Stalker’ überwiegend ein Abenteuerfilm geworden, mit einem gewaltbereiten Wiederholungstäter als Hauptfigur, aber mit der Zeit wurde er immer mehr dem Fürsten Myschkin aus Dostojewskijs ‘Idiot’ ähnlich. Einem Menschen, der versucht, den anderen zu helfen, dessen Leben dem Helfen der Unglücklichen gewidmet ist.
Tarkowskij hat das Buch ‘Picknick am Wegesrand’ von Boris und Arkadi Strugazki, das dem Film als Grundlage dient, vollkommen neu interpretiert. Einer der Brüder verweilte auch ziemlich lange in Tallinn, Andrej hat ihm oft die nächste Szene gegeben und erklärt, in welche Richtung er sich deren Überarbeitung wünscht. Gedreht wurde nur für zwei bis zweieinhalb Stunden pro Tag, in der Zeit, die auf Englisch magic hour genannt wird, auf Russisch aber rezhimnaja vremja (Regimezeit), wenn kein direktes Sonnenlicht mehr da ist, nur das silbern kühle Licht des Himmelszeltes.
Ein Film wie ein altes niederländisches Gemälde
Tarkowskij schaute selbst durch die Kamera und bestimmte die Einstellungen mit Millimeter-Genauigkeit. Normalerweise wurden zwei Takes aufgenommen. Nur zwei, weil man doch auf Kodak drehte, das war zur Sowjetzeit Gold wert. Aber mehr brauchte man auch nicht, da alles stimmte. So wurde der Tag größtenteils mit Vorbereitungen verbracht. Das Kraftwerk in Jägala war ursprünglich pfirsichfarben. Es wurde zweimal gestrichen - zuerst mit Altgrün, wie auf den alten niederländischen Gemälden, dann hat man es trocknen lassen. Danach wurden der Farbe gebrauchtes Motoröl, Wasserglas und Kupferstaub beigemischt, diese grünbraune Farbe blätterte von den Wänden ab, dazu wurde noch Moos angeklebt. Tarkowskijs Standpunkt war, dass auch eine Einstellung, in der kein Schauspieler zu sehen ist, für den Zuschauer stets interessant sein muss. So wurden alle Fakturen sehr üppig, lebendig, oft fließt in ihnen Wasser.
Innerhalb des Bildausschnittes wurde alles genau komponiert, da gab es keine Zufallselemente, außer dem Wind, der die Büsche bewegte. Alles andere war genau ausgerichtet, die Zeit für das Licht wurde mit fünfminütiger Genauigkeit festgelegt, der Kameramann hat immer mit dem Kolorimeter gemessen, um die richtige Lichttemperatur zu bekommen. Alles war wie gemalt. Jedes Element musste stimmen, so pflückten wir zum Beispiel alle andersfarbigen Blumen ab, nur die weißen blieben, in Extremfall auch einige blaue, die gelben und die roten mussten weg, damit man nur das reine, kühle Grün und Weiß hatte. Die Buntheit wurde vernichtet. Und wenn die grünen Blätter, zum Beispiel vom Innenraum heraus betrachtet, zu leuchtend waren, wurden sie mit dunkler Farbe besprüht.
Im Film malt man eben mit Licht, das heißt, in guten Filmen ist es so…
Tarkowskij hatte bei jedem Film eine neue künstlerische Konzeption. ‘Der Spiegel’ war freies Schwimmen im Ozean zwischen mindestens drei Zeitebenen: dem Jahr 1936, der Kriegszeit und 1974 - und dazu noch den Archivaufnahmen.
Die Konzeption für ‘Stalker’ fußte auf der klassischen Einheit von Zeit, Ort und Raum. Konkrete Räume, 24 Stunden, während derer die ganze Reise unternommen wurde. Tarkowskij strebte an, keine großen Zeitsprünge zwischen den Einstellungen zu haben, dadurch sind die Einstellungen in diesem Film auch besonders lang. So seltsam es klingen mag, aber im Sinne des Bildes hat man sich beim ‘Stalker’ den französischen Maler Nicolas Poussin (1594-1665) zum Vorbild genommen. Poussins Gemälde haben häufig mythologische Sujets, und im Prinzip basiert auch ‘Stalker’ auf einem Mythos. Auf dem Glauben. Auf der ethischen Lehre, die sagt, dass du nach Möglichkeit anderen Menschen helfen, dabei aber Folgendes wissen sollst: Wenn du die Schwelle des geheimnisvollen Ortes, wo die innersten Wünsche erfüllt werden, erreichst, stellt sich heraus, dass der Mensch nichts über seine unterbewussten Wünsche weiß. Tarkowskij hat nie das Wort ‘Gott’ benutzt, aber der Film beinhaltet eine religiöse Botschaft. Wenn der Mensch vor Gott tritt, durchschaut Gott ihn, er weiß mehr über uns als wir selber. Der Mensch mag seinem Ideal folgen, kann sich aber nie vollkommen sicher sein, welche dunklen Mächte in ihm lauern.
Das war wie die Reise zum eigenen Gewissen, bei der alles Zufällige im Laufe der Wanderung wegfiel. Der Mensch blickte in sein Gewissen wie in einen dunklen Brunnen und wurde gereinigt. Trotz der Tatsache, dass er bestraft wurde und Jahre in Gefängnissen verbrachte hatte, dass seine Frau auf ihn wartete und seine Tochter wegen der Zone eine Mutantin war, konnte Stalker nicht anders, als den Menschen zu helfen, weil er das Gefühl hatte, dass ihnen sonst niemand helfen kann.
Er tat immer, was er für richtig hielt
In der Sowjetunion gab es unterschiedliche Einstellungen Tarkowskij gegenüber. Einerseits waren die Menschen begeistert von dem Meister, aber für die Behörden war er ein unangenehmer Typ, der auf absolut niemanden hörte und immer tat, was er selbst für richtig hielt. Von seinen in der Sowjetunion gedrehten Filmen hatte ‘Stalker’ die klarste Botschaft. Wer nicht ganz minderbemittelt war, hat doch verstanden, dass sie religiöser Art war. Es war nicht notwendig, von einem Gott zu reden; der Gott war da, das spürte jeder.
In seinem Inneren war Tarkowskij tief religiös, aber nicht so, dass alle es unbedingt gesehen hätten. Zu Hause hatte er lediglich einen schweren Gekreuzigten aus Stahl von Ernst Neiswestny und ein paar kleine Ikonen.
Im Westen hat man damals das dissidentenhafte im ‘Stalker’ hervorgehoben, Andrej jedoch hat ihn als religiös-geistigen Film gedreht. Wer Augen hat, der sieht, wer Ohren hat, der hört, und wer sich in den Film einzufühlen vermag, bekommt einen sehr positiven Energieschub. Ich glaube, dass die besten Filme Tarkowskijs einen Goldstempel haben. Einen hochkarätigen.
Arvo Iho ist Kameramann und Regisseur
Der Artikel ist am 5.8.2011 in der Zeitung ‘Kultuuripealinn’ (‘Die Kulturhauptstadt’) erschienen.
Übersetzung aus dem Estnischen: Liis Kolle