claus löser - heimweh nach limbo /text
heimweh nach limbo - anmerkungen zu ulrich polsters videos und installationen /von claus löser
Sämtliche Marksteine der Kinematografie speisen ihre Energie aus einem elementaren Widerspruch. Mit der öffentlichen Proklamation höchstmöglicher Intimität realisieren sie faktische Unmöglichkeiten. Indem sie Exhibitionismus praktizieren, schaffen sie doch gleichzeitig Schutzräume des Ur-Privaten. Authentische Filme fungieren deshalb stets als Akkumulatoren eigentlich unvereinbarer Sphären. Darin realisiert sich ihre Utopie. Aus der Profanität unseres unfreiwillig erlebten Hier und Jetzt vermag das Kino dank seiner spezifischen Reflexionsmechanismen etwas Neues, etwas Drittes zu schaffen. Dieser mediale Raum emanzipiert sich im Idealfall von seinem Urheber, schafft eine eigene Sphäre zwischen der so genannten wirklichen Wirklichkeit und ihrem intellektuellen Bewältigungsapparat. Transzendendierung waltet. Will heißen: es tritt jener Zustand ein, in dem der Künstler neidlos seinem eigenen Werk eine größere Weisheit zugestehen muß, als er selbst verbal zu artikulieren vermag. Aber das Kino ist nur ein Synonym dieses subtilen Zustandes. Dazu ein zunehmend diskreditiertes. Seine komplexe Herstellungsform verlangt viel Personal und Material, damit viel Geld. Und die an sich banale Redewendung vom verderblichen Einfluß des Geldes auf ungefestigte Charaktere läßt sich kaum eindrucksvoller belegen als mit einem Blick auf die aktuelle Filmszene und ihre Parteigänger.
Jean-Luc Godard, in jenen Kreisen eher ein Unbekannter, in seinem Kommentar zu Rette, sich wer kann (das Leben): “Also, welchen Zug soll man nehmen? An welchem Bahnsteig soll man zusteigen? Wie findet man eine Tätigkeit, die einem gestattet, ein wenig eigene Musik zu spielen, anstatt immer nur die anderen zu begleiten?” Genau darum geht es. Um Autonomie. Um eine Möglichkeit der Artikulation, jenseits der sich unerbittlich ausbreitenden, reproduktiven Bestätigungs- und Bedienungskreisläufe. Es ist ja kein Zufall, daß sich die Anfänge der künstlerischen Produktion Ulrich Polsters auf dem schmalsten aller Filmformate, dem Super-8-Film realisierten. In der DDR für Ostseeurlaubs-Impressionen oder Jugendweihen vorgesehen, wurde dieses Medium ab Ende der 70er Jahre von Künstlern wie A.R. Penck, Helge Leiberg und Cornelia Schleime konsequent mißbraucht. Mit einem bis heute spürbaren Kinderglück entthronten diese Pioniere das bis dahin unumstößliche Monopol der realsozialistischen Bilderproduktion aus Babelsberg (DEFA) und Adlershof (DDR-Fernsehen).
Ulrich Polster lernte ich Anfang der 80er in seiner sächsischen Geburtsstadt Hainichen kennen, auf einem der spitzel- und alkoholdurchsetzten Abende, die wir mit dem gegenseitigen Zeigen eigener Filme verbrachten. Daß auch wir damals auf das brachliegende Medium des Super-8-Films stießen, war nur folgerichtig. Das schmalste aller Filmformate avancierte für uns zum idealen Träger subversiver Artikulation. Diese Filme zu kaufen, zu belichten und vorzuführen, erwies sich als überaus effektiv. Relativ billig in der Anschaffung und einfach zu bedienen (irgendwas war immer drauf), zehrte die Faszination zusätzlich von ihren rezeptiven Umständen: wer die Produkte sehen wollte, mußte überhaupt erst einmal wissen, daß sie irgendwo und irgendwann gezeigt wurden. Die Schaffung eines potentiell konspirativen Raumes, die mit jeder Filmvorführung ohnehin einhergeht, erlebte in der DDR - wie in anderen totalitären Gesellschaften auch - ihre nochmalige Aufwertung. “Die Subversion im Kino beginnt, wenn im Zuschauerraum das Licht ausgeht und die Leinwand hell wird. Das Kino wird zum magischen Ort: psychologische und umgebungsbedingte Faktoren schaffen eine Atmosphäre, die für Wunder und Suggestionen aufgeschlossen macht. Das Unbewußte wird freigesetzt. Der Zuschauerraum wird zum Sanktuarium, wo in Dunkelheit und abgeschieden von der Außenwelt moderne Rituale gefeiert werden, die ihren Ursprung in atavistischen Erinnerungen und unbewußten Sehnsüchten haben. Die Macht des Bildes ist real, ebenso unsere Angst davor und die Faszination, die von ihm ausgeht.” Schreibt Amos Vogel in seinem Grundlagenwerk “Film als subversive Kunst”. Wiederum kein Zufall, daß Ulrich Polster alle 335 Seiten dieses Buches Anfang der 80er abfotografierte, um das in der DDR nicht erhältliche Werk sich selbst und ihm nahe stehenden Freunden zugänglich zu machen.
Indem die ostdeutsche Subkultur den Schmalfilm als Artikultionsfläche entdeckte, vollzog sie einen wirkungsvollen Kurzschluß. Mit einem eigentlich lächerlichen Instrumentarium - das von den “richtigen” Filmemachern der DEFA niemals ernst genommen werden konnte - wurde das staatliche Bilderverbot unterlaufen. Winzige Galerien, Wohnungen und ironischerweise auch kirchliche Räume transzendierten zu den von Vogel beschriebenen Sanktuarien und setzten hier ihr subversives Potential frei. Im technischen Provisorium postulierte sich ein Höchstmaß an Verweigerung gegenüber der vorgefundenen Bildsprache. Den indoktrinierten Filmen des Staates wurde so eine eigene Wirklichkeit entgegengesetzt. “Gegenbilder”, schreibt Elias Canetti in “Die Provinz des Menschen”, “sind wichtiger als Vorbilder.” Die Gegenbilder der filmenden Künstler in der späten DDR vermochten es, aus der Not ihrer technischen Unzulänglichkeit eine originäre ästhetische Tugend zu münzen. Da es ohnehin unmöglich war, die professionellen Standards konventionellen Filmemachens zu erreichen, perfektionierte man die Provisorien. So wurden die schmalen Filme mehrfach belichtet, zerkratzt, bemalt und zerstochen, der unstete Filmtransport, die chronischen Fehlfarben, die Über- und Unterbelichtungen erweiterten sich zu ganz bewußt eingesetzten, stilistischen Mitteln. Ein schönes Paradox, daß sich ausgerechnet im Unfertigen, Fehlerhaften und Zerstörten dieser Arbeiten ihr wichtigstes kreatives Moment erfüllte.
Ulrich Polsters frühe, in Hainichen und Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz) entstandenen Super-8-Filme “Metamorphosen” und “Crisis” (beide 1987) lassen sich einerseits dieser Tradition des ostdeutschen Künstlerfilms zuordnen. Auch er setzt gezielt materialorientierte Eingriffe an, übermalt einzelne Sequenzen, experimentiert mit dem fotografischen Negativ und mit Mehrfachbelichtungen. In “Metamorphosen” spaltet er den ohnehin schmalen Filmstreifen vertikal und setzt die nunmehr nur noch 4 Millimeter dünnen Fragmente neu zusammen - und findet damit zu individuellen Formen von “split screen”- und “cut-up”-Montage. Andererseits unterscheiden sich diese Filme inhaltlich doch von denen seiner Kollegen. Denn ihre Sujets kreisen mit deutlich analytischem Interesse um psychosoziale Phänomene wie medial bedingtem Kommunikationsverlust oder zwischenmenschlicher Entfremdung. Polster geht es weniger um Selbstdarstellung als um den Versuch, mittels der filmischen Perspektive die vorgefundenen Realitäten einer Vivisektion zu unterwerfen. Zur grüblerischen Musik Kryzstof Pendereckis widmet er sich den Krisen individuellen Seins, sucht nach Möglichkeiten von Entpuppung und Metamorphose.
Es ist das Erlebnis des Ostens, das evident bleibt - erst als Trauma, dann als Leerstelle. In den aktuellen Videoarbeiten Ulrich Posters leben die Erfahrungen und Stilmittel der frühen Super-8-Experimente fort. Inhaltlich bleibt er sich ohnehin treu. Formal ist eine Sehnsucht nach den “schmutzigen Bildern” seiner eigenen künstlerischen Vergangenheit unübersehbar. Videobilder neigen ja prinzipiell zu einer aseptischen Sauberkeit. Um die zu überwinden, besinnt sich der Videofilmer Polster auf optische Verspiegelungen. Er setzt dabei aber eher auf den bewußten Einsatz von Fehlern und Irritationen als auf die Benutzung all der sich heute anbietenden digitalen Spielereien. Auch die Wahl seiner Schauplätze sind in diesem Kontext zu sehen. Sein Blick richtet sich vornehmlich in den Osten und Norden. Hier findet er eine von der ästhetischen Gleichschaltung durch westliche Konsumdiktatur noch ausgeschlossene Szenerie. Selbst wenn er wie in “Subway” (2000) scheinbar einen Film über New York macht, interessiert ihn doch hier das Russische mehr als das Amerikanische. “Frost” zitiert Tarkowski, zeigt dokumentarische Aufnahmen einer in Zeitlupe erstarrenden Szenerie. Auch in den Installationen gibt es immer wieder wichtige, autobiografisch gefärbte Einsprengsel und Bildmotive. In den baulichen Ruinen “vergessener Gewerke” (Walter Benjamin) macht er sich auf die Suche nach auratischen Spuren, so bei “Das Loch in der Wand” oder “Zum Stier von Flandern”. Wie der Verfall so bleiben auch die Erfahrung der Langsamkeit und der angehaltenen Zeit allgegenwärtig. Im Gespräch mit Alexander Kluge verwies Heiner Müller auf die “Trägheit des Ostens”, die sich nach der Maueröffnung über den Westen ergoß: drei Tage nach dem 9. November 1989 waren in West-Berlin die meisten Rolltreppen kaputt. Das verhaltene, mitunter unterbrochene Gleiten auf Schienen gehört zu den elementaren Erfahrungen der Fortbewegung für hinter dem Eisernen Vorhang sozialisierter Menschen. Private Autos gab es nur wenige, Flüge waren ebenfalls irrelevant. Wer reisen wollte oder mußte, tat dies mit der Eisenbahn und lieferte sich damit der unberechenbaren Willkür des Bahnbetriebs aus. Schienenstöße wie die in Tarkowskis “Stalker” strukturieren das Denken und Filmen Ulrich Polsters. Auch deshalb gibt es in seinen Arbeiten so oft Züge zu sehen, bevorzugt er Perspektiven, die die eines Zugreisenden sein könnten oder tatsächlich sind. Polster selbst schreibt in seiner Diplomarbeit: “Reisen nicht als Überwinden von Distanzen, sondern als Erfahren von Unterschieden.”
Ingmar Bergman wollte seinen vielleicht wichtigsten, 1963 entstandenen Film “Das Schweigen” ursprünglich “Timoka” nennen. Das Wort beschreibt im Estnischen einen Zustand des Übergangs vom Hiesigen zum Jenseitigen, einen Status der Hybris zwischen Leben und Tod - ein baltisches Synonym für das lateinische “Limbo” also, sprich: Vorhölle. Bergman gab jener Stadt diesen rätselhaften Namen, in der die beiden Schwestern mit dem Kind nach einer Eisenbahnfahrt (!) stranden. Hier prägt die Ahnung eines unmittelbar bevorstehenden Krieges die Atmosphäre, schlägt alles in seinen Bann. Die Handlungsträger des apokalyptischen Films scheinen ebenso dem Untergang geweiht wie die Stadt Timoka selbst. Mit dem Namen dieser imaginären Stadt überschrieb Ulrich Polster 1999 seine wissenschaftliche Abschlußarbeit an der Kunsthochschule Leipzig. “Timoka” nannte er auch eine im Jahr 2000 erarbeitete Rauminstallation. Für ihn trägt der Begriff durch seine Dialektik. In der Ambivalenz des Übergangs durchmischen sich positive wie negative Anteile, gehen durch den künstlerischen Prozeß eine Synthese ein. Ergebnis ist nicht weniger als Utopia - ein real existierender Un-Ort zwischen den Sphären der Wahrnehmung. Es handelt sich genau um jene, eingangs erwähnte “dritte Sache”. Am nächsten ist Ulrich Polster diesem Ideal in seinem Videofilm “Le chambre bleu” gekommen. Dieses blaue Zimmer der Imagination führt Orte einstiger und aktueller Anwesenheiten (Paris, USA, Rußland, Leipzig) und Bilder von ihm nahestehender Menschen mit anderen visuellen und akustischen Bausteinen (Tiere, Ruinen, Landschaften, Bild- und Tonzitate) zu einer schwebenden Collage zusammen. Verlassene Orte erscheinen darin stets reicher als bevölkerte; sie sind bewohnt von Assoziationen und Erinnerungen.
Claus Löser ist Filmkritiker/Filmhistoriker und lebt in Berlin