radjo monk - schmale pfade /text
schmale pfade - anmerkungen zur arbeit von ulrich polster /von radjo monk
Nähe und Distanz, Meditation und Analyse – das sind zwei Gegensatzpaare, die mir spontan einfallen, wenn ich darüber nachdenke, was mich an Ulrich Polsters künstlerischer Arbeit fasziniert.
Erzählstränge werden gebrochen und markieren philosophisches Terrain. Tempi werden überraschend gewechselt und assoziieren kompositorische Strategien. Und die dem dokumentarischen Element stets verbundene Ebene bewegter Bilder wird angehalten zugunsten eines poetischen Schwebezustandes.
Rückblickend zum Beginn der achtziger Jahre, als ich Ulrich Polster in der Stadt unserer gemeinsamen Herkunft kennenlernte, ergibt sich der Eindruck einer dem Authentischen verpflichteten Kontinuität, eine Treue zum ursprünglichen Impuls: Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nach den Wechselwirkungen zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. Zugegeben, das klingt nach einem Allgemeinplatz, aber Ulrich Polster behandelt diese Fragen von Beginn an in einer Art fortgesetzten Prüfung, indem er sich selbst diesen Fragen aussetzt, Experimentator und Versuchsobjekt in einem.
Und da Ulrich Polster für seine Arbeit zunächst das (Massen-) Medium Fotografie verwendete, lieferte er sich schon am Beginn seiner Arbeit der Moderne aus, der man sich zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch leicht verweigern konnte. Ein Umstand, der eng mit der erwähnten Kontinuität zu tun hat, aber auch mit der Fähigkeit der Selbstbehauptung und der Kraft, aus einem Scheitern das Kapital der Erfahrung zu filtern.
Als ich 1990 in Karl-Marx-Stadt eine Fotoausstellung von Ulrich Polster mit einer Lesung von Gedichten eröffnete, war diese seine Bereitschaft zur Hingabe an die neuen Technologien der Kommunikation und der künstlerischen Äußerung bereits ausformuliert. Dabei ist es ihm nie um Abbilder von der Welt gegangen, sondern um all jene Fragen, die sich rings um die technischen Bedingungen eines Bildes aufbauen.
Er ist ein Beobachter, dem die genaue Erfassung von Fragen wichtiger ist als ihre Beantwortung. Und damit steht er mitten im kabbalistischen Prinzip, das besagt, daß alles, was geschieht, dem gesamten Kosmos geschieht. Von hier wäre es ein leichter Sprung zum Medienphilosophen Vilém Flusser und Spannungsfeldern, die Ulrich Polster in seiner Arbeit stets mitdenkt; aber ich will mich auf das konzentrieren, was mich im Grunde berührt, weil es Teil meiner eigenen Geschichte, Teil meiner Arbeit ist.
Die Bildsprache Ulrich Polsters weckt in mir Erinnerungen an die inzwischen versunkene Welt, in der wir in Hainichen lebten: Das sich langsam vor-und zurück bewegende Paar in “La vie” beispielsweise beschreibt für mich die seelische Intensität, die sich bei gemeinsamen Wanderungen mit anderen Freunden einstellte.
Ziel dieser Wanderungen war meist ein einsam stehender Gasthof im Wald, wo wir unter alten Kastanien saßen und einander im Gesprächsfluß spiegelten.
Um in diesem Abseits anzukommen, liefen wir einen schmalen Pfad durch ein Tal am Flüßchen namens Striegis entlang. Der Pfad war zu schmal, um nebeneinander gehen zu können.
Aus der Distanz der Jahre scheint mir dieser Umstand symbolische Kraft zu gewinnen: Wir gingen den Weg gemeinsam, und doch war jeder mit sich allein. Einkehr in das Schweigen als Gesprächsgrund, Idylle als Folie zur Beschreibung einer als durchaus ungemütlich empfundenen Welt. Wir diskutierten nicht aus der Vogelperspektive über Probleme, sondern in ihren Bindungen, aus denen heraus wir uns allmählich ent-wickelten.
Die Gegensatzpaare Nähe und Distanz, Meditation und Analyse haben, wie man sieht, tiefe Wurzeln. Und sie speisen eine Bildwelt, deren innere Brüchigkeit das Denken voran treiben und es für Alternativen offen hält. Dies ist wohl auch die bestechendste Charakteristik an der Arbeit Ulrich Polsters: Es gibt keine Verkapselung in Finalität. Das mag auf paradoxe Art überraschen, wenn man die Konstruktion von Videofilmen wie “Fragment IV” anschaut, die im hohen Abstraktionsgrad modellhaft existentielle Situationen durchspielen; es überrascht nicht mehr, wenn man hinter der Konstruktion die Parabel entdeckt. Dann tritt ein Erzähler in den Vordergrund, der zu schweigen weiß. Und zwar auf eine Art zu schweigen, daß man als Gegenüber plötzlich sein eigenes Denken zu hören beginnt.
Radjo Monk ist Schriftsteller und lebt in Leipzig